ADHS gibt es gar nicht? Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr das Thema AD(H)S die Gemüter erhitzt. Viele Menschen haben viele Meinungen und argumentieren jeweils aus ihrer eigenen Sichtweise. Ein Standpunkt ist, dass ADHS / ADS eine Erfindung der Pharmaindustrie sei. ADHS gibt es gar nicht, wird dann behauptet. Daher auch hier ein kleiner Beitrag dazu. Eines möchte ich vorwegnehmen: Ich persönlich beschäftige mich mit Menschen, nicht mit Ideologien.
Der Leidensdruck der Betroffenen
Es gibt Kinder und Erwachsene, die im „System“ nicht (gut) klarkommen, weil sie Eigenarten haben, die man im allgemeinen Sprachgebrauch „AD(H)S“ nennt. Das ist Tatsache. Durch dieses Nicht-Klarkommen / diese Andersartigkeit entsteht oftmals ein Leidensdruck, der weder eingebildet noch erfunden, sondern für Betroffene absolut real ist.
Dieser Leidensdruck kommt überwiegend von einem Umfeld, das Menschen nicht so sein lässt, wie sie sind und eine Norm definiert, in die der/die Betroffene nicht passt und für die er/sie passend gemacht werden soll. Das ist respektlos, entwürdigend und verachtend. Dieses Umfeld kann so ziemlich alles sein: Schule, Arbeitgeber, Eltern, Pädagogen, Familie, Nachbarschaft, Therapeuten usw. Je nach individueller Situation. Im Übrigen ist das psychiatrische / psychotherapeutische System auch unabhängig von Medikation auf diesen Grundsätzen aufgebaut.
ADHS und Medikation
Das Umfeld / die ganze Gesellschaft wird sicherlich durch die Pharmalobby manipuliert. Die “ADS / ADHS”-Problematik geht allerdings weit, weit, weit darüber hinaus. Die Pharmaindustrie erfüllt ein Bedürfnis über den Umweg eines Medikamentes: Das Bedürfnis, „normal“ im Sinne von ERWÜNSCHT zu sein und damit das Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Ein Bedürfnis, das anderweitig für viele Betroffene offensichtlich nicht erfüllt wird, denn sonst gäbe es dieses ganze Thema nicht. Mir persönlich tut es weh, das zu sehen. Dennoch es gibt Menschen, die diese Medikamente als Befreiung empfinden. Genauso, wie es Menschen gibt, die nach der Diagnose heilfroh sind, dass ihre Schwierigkeiten endlich einen Namen haben. Das ist die andere Seite. Und es steht mir nicht zu, diese Menschen mit meinen Wertemaßstäben zu beurteilen.
Man muss doch nur … !?
Wenn man nun mit einfachen Parolen für komplexe Sachverhalte (á la die Kinder „müssen nur toben dürfen“, „brauchen Zuwendung“, „bekommen das falsche Essen“) kommt, kann sehr schnell Folgendes passieren: Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen, da sie in ihrer Wahrnehmung meist schon alles Mögliche erfolglos versucht haben, und haben daher den Reflex sich zu verteidigen / zu rechtfertigen. Dadurch entsteht eine Kontra-Situation, was für eine Lösung grundsätzlich kontraproduktiv ist. Meiner bescheidenen Meinung nach besteht die Gefahr, dass diese Betroffenen dadurch eher noch in die Arme der Pharmaindustrie getrieben werden, da nämlich diese – und nur diese – eine (zumindest scheinbar) EINFACHE Lösung hat. Nur zu welchem Preis?
Zudem basieren diese Aussagen tendenziell auf dem gleichen Grundgedanken wie die Herangehensweise der Pharmaindustrie und größtenteils auch der Psychotherapie: Auf der Meinung, „AD(H)S“-Verhalten sei „falsch“ und könne durch irgendetwas „weggemacht“ werden. Auch wenn diese Aussagen als Kritik an der Pharmaindustrie gemeint sind, wird ein Betroffener schnell da heraus hören, dass er/sie mal wieder etwas nicht richtig gemacht hat – weil er/sie ja angeblich „nur“ xyz tun müsste, um das Problem zu lösen. Das hört er/sie oftmals sowieso schon tagtäglich. Daher kann ich nur raten, damit sehr vorsichtig zu sein.
Ich möchte damit ausdrücklich NICHT sagen, dass diese Aussagen grundsätzlich falsch sind. Ich persönlich glaube, dass Bewegung helfen kann und dass Ernährung helfen kann. Ich glaube nicht, dass dadurch automatisch „ADHS“-Verhalten und der damit verbundene Leidensdruck weggezaubert wird. Ich glaube auch nicht, dass das möglich ist. Ich persönlich möchte auch keine Menschen ändern, weil ich das für respektlos halte. Ich persönlich stehe auch dem pharmazeutischen / medizinischen / psychiatrischen / therapeutischen / psychologischen System durchaus kritisch gegenüber.
ADHS gibt es gar nicht?
Ich will nur Folgendes sagen: Wer mit dem Finger auf die Pharmaindustrie zeigt, erntet wahrscheinlich den Beifall der Systemkritiker. In Punkto „AD(H)S“ geht es für mich persönlich nicht um Systemkritik, sondern um betroffene Menschen. Die Frage, die sich mir stellt, ist also nicht primär die Frage nach der vermeintlichen Bösartigkeit der Pharmaindustrie, sondern die Frage: Wie kann ich betroffenen Menschen helfen, das Bedürfnis nach Anerkennung, Zugehörigkeit, Akzeptanz, Liebe, Respekt, Achtung und Wertschätzung usw. zu erfüllen – und das womöglich auch ohne Medikamente? Das kann ich sicherlich nicht, indem ich ihnen suggeriere, dass es ihre Schwierigkeiten gar nicht gibt und sie nur simulieren oder schlichtweg „zu blöd“ sind, um (mit was auch immer) klarzukommen.
Sondern das kann ich, indem ich Ihnen anerkennend, liebevoll, respektvoll und wertschätzend mit Achtung und Würde begegne. Ob mit oder ohne „AD(H)S“ – jeder Mensch ist einzigartig. Das ist die Vielfalt des Lebens. Und das ist wundervoll.
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